Olaf Nicolai

Escalier du Chant

  1. Uraufführungen
  2. Samir Odeh-Tamimi Léxis
  3. Liza Lim 3 Angels
  4. James Saunders distribution study #9
  5. Georg Katzer Nichts! Nitschewo!
  6. Elliott Sharp Judgement

Liza Lim 3 Angels

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Deutsch

Die enigmatischen Texte von Hélène Cixous behandeln in erster Linie Bilder vom Kampf des biblischen Jakob mit dem Engel. Cixous spielt mit der Sprache, um eine Korrespondenz zwischen »Wunde« und »Segnung« zu schaffen; zwischen einer bestimmten Form von Leiden »aus Liebe« und Verlust, korreliert zu einer Öffnung in Richtung Freiheit; zwischen Zuständen der »Verlassenheit« oder »Separation«, die sich zu einer »Benediktion« verwandeln. Im ersten Lied findet sich diese Paarung in den geflüster-ten Worten »je ne te lâcherai point que tu ne m’aies béni / quand tu m’aura béni je te lâcherai« (»Ich lasse dich nicht gehen, bis du mich gesegnet hast / wenn du mich gesegnet hast, werde ich dich gehen lassen«), die sich wie-derholen und verweben, sich in den Körper der Vokali-sierung des Soprans ein- und ausschlängeln. Cixous sagt:

»Ich versuche das, was sich verspricht, zu benennen, das, was sich mir entflieht / Das, was stumm zu meinen Augen spricht / Der Engel, der Körper ohne Namen ist, ohne Geschlecht / Es ist die Stimme / Alles andere ist ein Engel / Andere«

Im zweiten Lied findet das Motiv der Flucht Ausdruck in den Worten »interdit«, »im­possible«, »la fuyance« (verboten, unmöglich, das Flüchtige), die eine extreme Trennung zwischen einem Mann und einer Frau beschreiben. Diese Polarität ist jedoch erotisch und taucht ineinander ein, ihre unmögliche Fremdheit wird gebrochen und transformiert sich in ein »sie«.

»Wie Suizid und Unsterblichkeit – … / Erreichten sie den Punkt / In einem Funken-feuerwerk, / (Seltsamerweise) – Ein Hahn krähte / Eine Henne krähte sich heiser«

Das dritte Lied bezieht sich auf das viszerale Thema des Todes von Neda Agha-Soltan, die auf dem Weg zu Protesten gegen das Wahlergebnis der iranischen Präsidentschafts-wahlen 2009 auf offener Straße erschossen wurde. Ihr Tod, der von Zeugen gefilmt und über das Internet verbreitet wurde, wurde zum Zündpunkt und Aufruf zum Kampf für die oppositionellen Demonstranten im Iran. Zeitungen berichteten von ihrem letzten Wortwechsel:

»Neda / Geh nicht / Mach dir keine Sorgen, es ist nur eine Kugel und gleich vorbei« / »Ich brenne, ich brenne«

Eine männliche Stimme weint, ringt heiser um Luft, singt ein Liebeslied, erinnert sich …

Statement

Das »politische Thema« – ein heikles Territo­rium, meiner Meinung nach – für dieses Lied zu wählen, war eine Herausforderung. Es gibt natürlich kein Ende an kritikwürdigen Dingen, auf die es aufmerksam zu machen gilt, in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, ökologische Katastrophen, Justizirrtümer, staat­liche und Konzernkorruption, ganz zu schweigen von persönlich-politischen Tra-gödien, die sich von der Presse unbemerkt abspielen. Ein politisches Thema als Gegen-stand eines Kunstwerks ist jedoch nicht unbedingt synonym mit einer »politischen« Arbeit im Sinne ihrer Auswirkung auf ein breiteres Bewusstsein.
Diese Zone, meine ich, ist vielmehr schwerer zu fassen und liegt in den Zwischen-bereichen einer fluktuierenden, gelebten Erfahrung, im Kontext und in der symboli-schen Bedeutungs­produktion. Oft kann man nicht vorhersehen, wie bestimmte Objekte, Ereignisse oder Figuren eine intensivierte Aura annehmen und eine bestimmte Macht-konstellation bilden, die das Denken der Menschen trans­for­miert (zum Positiven oder Negativen).
Die Geschichte von Neda Agha-Soltan hat mich gereizt als Beispiel für diese ikonische »Konstellationsmacht«. Sie wurde ein Mär­tyrer­symbol und ihr Bildnis zu einem Kampf­ruf für politische Freiheit, als ein Video ihrer Sterbemomente über YouTube verbreitet und von Millionen von Menschen gesehen wurde. (PBS/BBC hat einen höchst deprimie-renden Dokumentarfilm produziert, »Neda: An Iranian Martyr«. Die anhaltende Macht ihrer Geschichte ist so groß, dass sie im Iran immer noch heftiger Zensur unterliegt.)
Mein Stück vereint einige angeblich von Neda Agha-Soltan gesprochene Worte, deren Name »Stimme« bedeutet, und die schließ-lich »Friedensengel« genannt wurde, mit zwei Exzerpten aus den »Schreibbüchern« der französischen feministischen Schriftstellerin Hélène Cixous. Ich kombiniere die Ideen zu Neda als »Stimme« für bestimmte Personen mit der abstrakteren Stimmenverleihung einer unnennbaren Macht, die sich in Cixous’ Texten findet. Diese sind bevölkert von der vermittelnden Figur des Engels – als Botschafter von Leiden und Segen, als Enigma von Andersheit und Verlassenheit.

English

The enigmatic texts by Hélène Cixous deal firstly with images of the biblical Jacob’s struggle with the Angel. Cixous plays with language to create a correspondence between »wound« and »blessing«; of a certain kind of suffering »out of love« and loss, correlated to an opening towards freedom; between states of »abandonment« or »separation« which transform into a »benediction«. In the first song, this pairing is found in the whispered words »je ne te lâcherai point que tu ne m’aies béni/quand tu m’aura béni je te lâcherai« (I will not release you until you have blessed me/once you have blessed me I will re-lease you) which repeatedly entwine, curling and uncurling themselves onto the body of the soprano’s vocalisation. Cixous says:

»I’m trying to name that which promises itself, what escapes me / What speaks mutely to my eyes / an angel is body without name, without gender / It’s the Voice / Every other is an Angel / Other«

In the second song, the motif of escape finds expression in the words »interdit«, »impossible«, »la fuyance« (forbid-den, impossible, evasiveness), describing an extreme separation between a man and a woman. But this polarity is erotic and they dive into one another: their impossible estrangement is breached and transforms into a »Them«.

»Like suicide and immortality – … / They were arriving at the point / In a spray of sparks, / (Strangely) – A cock was crowing / A hen cock was crowing itself hoarse«

The third song references the intensely visceral subject of the death of Neda Agha-Soltan who was shot on her way to participate in the protests against the outcome of the 2009 Iranian presidential election. Her death was filmed by bystanders in the street and broadcast over the internet creating a flashpoint and rallying call for opposition protesters in Iran. Newspapers reported some of her last exchanges as:

»Neda / Don’t go / Don’t worry, it’s just one bullet and it’s over« / »I’m burning, I’m burning«

A male voice weeps, he gasps for air hoarsely, he sings a love song, he remembers…

Statement

It was a challenge to decide on this song’s ›political subject‹ which I think of as very tricky territory. Of course there’s no end of things to critique or draw attention to when it comes to issues of violations of human rights, ecological disasters, miscarriages of justice, government and corporate corruption, not to mention the personal­-political trage-dies that pass unnoticed by the press.
But having a political theme as the subject of an artwork is not necessarily synony-mous with the work itself being ›political‹ in terms of how it impacts on a wider conscious-ness. That zone, I think, is rather more elusive and lies in the in-between spaces of fluctu-ating lived experience, of context and symbolic meaning making. One often can’t foresee how certain objects, events or figures might take on an intensified aura and constellate a certain power which can transform people’s thinking (either positively or negatively).
I was drawn to look at the story of Neda Agha-Soltan as an example of this iconic ›constellated power‹. She became a symbol of martyrdom and her image was adopted as a rallying call to political freedom when a video of her dying moments was broadcast on YouTube and watched by millions. (There’s an intensely depressing documentary made by PBS/BBC, ›Neda: An Iranian Martyr‹. Such is the continuing power of her story that it is subject to heavy censorship in Iran.)
My piece brings together some words reportedly said by Neda Agha-Soltan, whose name meant ›voice‹ and who was subse-quently dubbed ›The Angel of Freedom‹, with two ex­cerpts from the ›Writing Notebooks‹ of French feminist writer Hélène Cixous. I combine the ideas about Neda as a ›voice‹ for certain people with a more abstract voicing of unnameable power found in Hélène Cixous’ texts which are populated by the intermediary figure of the angel – as messenger of suffer-ing and blessings, as enigma of otherness and abandonment.

Quellen / sources: Hélène Cixous, The Writing Notebooks, New York / London 2004, S. / p. 109.
telegraph.co.uk
(Letzter Zugriff / last access: 11. 9. 2011)