Olaf Nicolai

Escalier du Chant

  1. Uraufführungen
  2. Samir Odeh-Tamimi Léxis
  3. Liza Lim 3 Angels
  4. James Saunders distribution study #9
  5. Georg Katzer Nichts! Nitschewo!
  6. Elliott Sharp Judgement

Samir Odeh-Tamimi Léxis

download information

Deutsch

Die Welle der arabischen Unruhen, die mit der tunesischen Revolution im Januar 2011 begonnen hatte, erreichte Syrien Mitte März, als Einwohner einer kleinen Stadt im Süden des Landes auf die Straßen gingen, um gegen die Folterung von Studenten wegen der Anbringung von Anti-Regierungs-Graffiti zu protestieren. Präsident Bashar al-Assad, der die strenge syrische Diktatur von seinem Vater Hafez al-Assad geerbt hatte, schwankte anfangs zwischen Militärgewalt und einem Hauch von Reformen. Im April jedoch, nur wenige Tage nachdem er den jahrzehntelangen Aus­nah­mezustand des Landes aufgehoben hatte, lancierte er die erste einer Serie von vernich­tenden Einsätzen und schickte Panzer in die Unruhezonen, während Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffneten.

Syriens brutales Vorgehen und Präsident Assad selbst sind international verurteilt worden. Jedoch wurde keine direkte Intervention vorgeschlagen, und die Unterstützung der Demonstranten hält sich die Waage mit der Angst vor Instabilität in einem Land inmitten so vieler Konflikte in der unberechenbarsten Region der Welt.

Bis Anfang August kamen durch massiven Militäreinsatz – mit Bomben, Panzern, Artillerie und Scharfschützen – in der Protest­hochburg Hama und an anderen Orten nach Hochrechnung von Menschenrechtsorganisa­tionen vermutlich über 1.700 Menschen, zu­meist Demonstranten, ums Leben, während weit über 10.000 Personen als inhaftiert oder vermisst gemeldet wurden. Die nationale Wirt­schaft befindet sich am Rand des Zusam­menbruchs.

Die arabische Jugend, die während der revolutionären politischen Umbrüche ihre Hoffnungen auf die intellektuelle arabische Elite setzte, kritisiert zunehmend deren Zurückhaltung und Schweigen in Bezug auf die Regimes. Ihre Wut richtet sich gegen die ältere Generation von Dichtern, Schriftstellern, Künstlern und Akademikern, denen sie Duckmäuserei und Anbiederung bei den Machthabern vorwerfen.

Statement

Meine Reaktion auf die Enttäuschung der arabischen Jugend über das Schweigen ihrer intellektuellen Elite zu den politischen Revolutionen – ihre fehlende kritische Auseinandersetzung mit den überkommenen Herrschaftssystemen – ist die Vertonung eines Gedichts des berühmten syrisch-libanesischen Dichters Adonis, einem der Intellektuellen der älteren Generation, dem ebenfalls ein Mangel an klarer Positionierung zugunsten der Protestierenden vorgeworfen wird. In diesem Gedicht beschreibt Adonis ebendieses Thema: die Notwendigkeit einer Umwälzung. Das Lied ist damit gleichzeitig eine Antwort auf die Erwartungen der jungen Generation und selbst eine Frage: Kann ein Werk für eine Person einstehen, oder ist eine Person vielmehr auch ihrem Werk verpflichtet?

Die Farbe des Wassers

Wörter, die Beine und Häuser haben
Wörter, die sterben
Wenn sie schwanger sind –
Wir bewohnten ein Land
Das sie umgarnten
In seinen Falten
Wurden wir zerstreut
Wir malten
Über seine Horizonte Zweige
Wir malten
Augen, Visionen …

Wörter, die ihre Schale abwarfen
Die mich geleiteten
Zu den Ritualen der Stadt
Wir gingen zu ihren Treffen
Und entflammten als Traum
Wir begruben dort
Den Leichnam der Welt
Deren Erbe wir teilten
Und stiegen auf als Flamme
Der bestatteten Zeit.

[…]
Adonis

English

The wave of Arab unrest that started with the Tunisian revolution of January 2011 reached Syria in mid-March, when residents of a small southern city took to the streets to protest the torture of students who had put up anti-government graffiti.

President Bashar al-Assad, who inherited Syria’s harsh dictatorship from his father, Hafez al-Assad, at first wavered between force and hints of reform. But in April, just days after lifting the country’s decades-old state of emergency, he launched the first of what became a series of withering crackdowns, sending tanks into rebellious cities as security forces opened fire on demonstrators. Syria’s crackdown has been condemned internationally, as has President Assad. But no direct intervention has been proposed, and support for protesters has been balanced against fears of instability in a country at the centre of so many conflicts in the world’s most volatile region.

By early August, a massive crackdown on the insurgent city of Hama — involving bombs, tanks, artillery and snipers — and elsewhere drove the tally of estimated deaths kept by human rights groups over 1,700, mostly protesters. Well over 10,000 people were reported to be in custody or missing. The country’s economy was headed toward the point of collapse.

The Arabian youth, who placed their hopes in the intellectual Arabian elite during these revolutionary political upheavals, are increasingly critizising the elite’s reluctance to act and their silence towards the regimes. Youth anger is directed against the older generation of poets, authors, artists and aca­demics, whom they accuse of moral cowardice and sycophancy.

Statement

My reaction to the disappointment of the Arabian youth over the silence of their intel­lectual elite regarding the political revolutions — their lack of critical confron­tation with the traditional systems of rule — is to set to music a poem by the famous Syrian-Lebanese poet Adonis, an intellectual of the older generation, who is likewise accused of not taking a clear position on the side of the protesters. In the poem, Adonis describes just this theme: the necessity of an upheaval. Therefore the song is simultaneously an an-swer to the expectations of the younger generation and a question in itself: can a work of art advocate for a person, or is a person instead committed to the message of his own work?

The colour of water

Words that have legs and houses
Words that die
When they are pregnant –
We inhabited land
That they ensnared
We were scattered
In its folds
We painted
Branches above its horizons
Eyes, visions…

Words that shed their shells
That guided me
To the rituals of the city
We went to their gathering
And caught fire as a dream
There we buried
The corpse of the world
Whose legacy we shared
And rose as a flame
Of entombed time.

[…]
Adonis

Quellen / sources: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 102, 3. 5. 2011, S. / p. 20
nytimes.com
blogspot.com
(Letzter Zugriff / last access: 11. 9. 2011)